Zur Kostenübernahme eines GPS-gestützten Navigationssystems für Blinde

Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 30.05.2007 – L 6 KR 4/06

1. Zur Kostenübernahme eines GPS-gestützten Navigationssystems für Blinde und Sehbehinderte durch die Krankenkassen im Rahmen der Hilfsmittelversorgung.

2. Das Hilfsmittelverzeichnis stellt für die Gerichte nur eine unverbindliche Auslegungshilfe des § 33 SGB 5 dar (Anschluss an z.B. BSG vom 29.9.1997- 8 RKn 27/96 = SozR 3-2500 § 33 Nr 25).

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Neubrandenburg vom 24. November 2005 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

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Die Beteiligten streiten über die Versorgung des Klägers mit einem GPS-System für Blinde und Sehbehinderte.

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Der 1964 geborene, bei der Beklagten krankenversicherte Kläger ist von Geburt an blind. Er ist selbstständig als Klavierstimmer tätig. Von der Beigeladenen, bei welcher er gesetzlich rentenversichert ist, ist er zur Ausübung seiner Tätigkeit mit einem Kraftfahrzeug versorgt worden, welches durch eine von der Hauptfürsorgestelle finanzierte Arbeitsassistenz gefahren wird. Seitens der Beklagten ist er mit einem Blindenhund und einem Langstock für Blinde versorgt.

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Mit einem am 01. Dezember 2003 bei der Beklagten eingegangenem Schriftsatz beantragte der Kläger die Gewährung eines GPS-Systems für Blinde und Sehbehinderte, konkret das Modell „Trekker“ der Firma P. Zur Begründung führte er aus, dass er damit in bester Zusammenarbeit mit seinem Führhund Wege, Straßen und Orte noch einfacher und bequemer finden und erreichen könne. Zugleich reichte er einen Kostenvoranschlag sowie eine Verordnung des Augenarztes Dr. B vom 27. November 2003 ein.

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Mit Bescheid vom 27. Januar 2004 lehnte die Beklagte die Gewährung ab. Zur Begründung führte sie aus, dass das beantragte System kein zugelassenes Heil- und Hilfsmittel darstelle. Die Kosten würden daher nicht übernommen.

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Hiergegen erhob der Kläger am 10. Februar 2004 Widerspruch. Zur Begründung führte er aus, dass es sich bei dem Navigationssystem sehr wohl um ein Körperersatzstück (Augen) handele. Es ermögliche Blinden die Orientierung in fremder Umgebung, ohne Hilfe in Anspruch zu nehmen. Es sei verständlich, dass das Gerät noch nicht im Hilfsmittelkatalog verzeichnet sei, da es erst seit 2 Monaten auf dem Markt sei. Nachdem die Beklagte zunächst mit einem weiteren Schreiben vom 28. Juli 2004 ihren Standpunkt erklärte, dass die gesetzliche Krankenversicherung nur ein sogenannten Basisausgleich zur Verfügung zu stellen habe, bat der Kläger über seinen nunmehr eingeschalteten Prozessbevollmächtigten um Übersendung eines rechtsmittelfähigen Bescheides bis zum 08. September 2004. Daraufhin teilte die Beklagte mit, dass eine Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) dazu eingeholt werde, bevor ein rechtsmittelfähiger Bescheid ergehe. In einem Gutachten des MDK vom 03. September 2004 ist unter anderem ausgeführt worden, dass eine Orientierungsmöglichkeit für den Versicherten bereits durch den Blindenstock und durch den Blindenhund sichergestellt sei. Die Informationsbeschaffung werde mittels Vorlesegerät realisiert. Eine medizinische Indikation zur Versorgung mit dem GPS-System sei nicht gegeben.

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Daraufhin lehnte die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 22. September 2004 den Widerspruch des Klägers ab. Zur Begründung wiederholte sie ihre Auffassung, dass sie nur einen Basisausgleich zu gewähren habe und dies bereits durch die zur Verfügung gestellten Hilfsmittel realisiert worden sei. Das GPS-Navigationsgerät könne auch nicht den Blindenhund ersetzen.

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Der Kläger hat am 07. Oktober 2004 Klage beim Sozialgericht (SG) Neubrandenburg erhoben. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass er in Zusammenarbeit mit dem Blindenhund und der Nutzung des GPS-gestützten Leitsystems Wege, Straßen und Orte einfacher und problemloser erreichen könne. Er könne mithin seine Mobilität steigern und sich sowohl in der Stadt als auch in ländlichen Gebieten, wodurch die Umgebung von Pasewalk geprägt sei, besser zurecht finden. Es könnten auch Sehenswürdigkeiten programmiert werden. Er könne sich ohne Hilfe Dritter orientieren, oftmals passiere es, dass sich ein Passant nicht in der Nähe befinde bzw. sich nicht angesprochen fühle. Zur Stützung seines Vortrages hat der Kläger eine Produktinformation der Firma P sowie ein Angebot (Stand: Juli 2004) in Höhe von 3741,00 € zur Akte gereicht.

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Der Kläger hat beantragt,

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den Bescheid der Beklagten vom 27. Januar 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. September 2004 aufzuheben.

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Die Beklagte wird verurteilt, ihn mit einem GPS-gestützten Navigationssystem, Typ „Victor Trekker“, zu versorgen.

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Die Beklagte hat beantragt,

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die Klage wird abgewiesen.

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Zur Begründung hat sie im Wesentlichen Bezug genommen auf ihre Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden. Ergänzend hat sie ausgeführt, dass berufliche Bedürfnisse nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung zu decken seien. Soweit der Kläger im Wesentlichen private Nutzung begehre, würde durch das Gerät kein Grundbedürfnis mehr befriedigt werden. Auch ein sehender Mensch könne sich in fremder Umgebung nicht ohne Weiteres orientieren und müsse gegebenenfalls jemanden fragen. Er könnte sich ebenfalls mit einem vergleichbaren Gerät für Sehende versorgen, wobei es sich dann aber um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens handeln würde.

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Das SG hat den zuständigen Rentenversicherungsträger durch Beschluss vom 04. Januar 2005 beigeladen. Schließlich hat es die Klage durch Urteil vom 24. November 2005 abgewiesen. Zur Begründung hat das SG im Wesentlichen ausgeführt, dass das begehrte Navigationssystem nicht bereits deshalb nicht zu gewähren sei, weil es nicht im Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt sei, dies stelle nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung lediglich eine unverbindliche Auslegungshilfe dar, zudem sei auch das Hilfsmittel „Blindenhund“ nicht im Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt. Das begehrte Navigationssystem stelle auch keinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens dar, da es sich um eine Spezialanfertigung für Behinderte handele. Es sei jedoch nicht erforderlich, um die Behinderung auszugleichen. Die Krankenkasse schulde nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts das Erschließen eines gewissen körperlichen Freiraums, ohne dass hier ein vollständiges Gleichziehen mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten des Gesunden zu gewährleisten sei. Es sei auf denjenigen Bewegungsradius abzustellen, den ein körperlich Gesunder regelmäßig zu Fuß zurücklege. Der Kläger sei mit den vorhandenen Hilfsmitteln Langstock und Blindenhund in der Lage, derartige Stellen – wie z. B. Einzelhandelsgeschäfte, niedergelassene Ärzte, Post usw. – auch ohne das streitige Navigationssystem aufzusuchen. Der Kläger trage selbst vor, dass er seinen Aktionsradius erweitern möchte und sich in unbekannter Umgebung orientieren möchte. Damit strebe er letztlich die Erweiterung seines Radius über den Nahbereich hinaus an, das heißt, es würde der von der Krankenkasse allein abzusichernde Basisausgleich überschritten. Auch sehende Menschen müssten sich in fremder Umgebung mit entsprechenden Hilfsmitteln z. B. Stadtplänen, Landkarten oder in digitaler Form (Navigationssysteme) orientieren bzw. gegebenenfalls Passanten nach dem Weg fragen. Des Weiteren bestehe kein Anspruch gegenüber der Beigeladenen, da die berufliche Integration durch die gewährte Kraftfahrzeughilfe nebst Arbeitsassistenz voll umfänglich gewährleistet sei.

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Der Kläger hat gegen das am 12. Januar 2006 zugestellte Urteil am 27. Januar 2006 Berufung eingelegt. Zur Begründung wendet er gegen die erstinstanzliche Entscheidung ein, dass der Begriff der Erforderlichkeit im Sinne des § 33 SGB V zu eng ausgelegt werde. Der fußläufige Freiraum eines Blinden sei auch unter Nutzung von Blindenhund und Langstock beschränkter als bei einem Gesunden. Schon ein Umzug des Arztes, ein neues Geschäft oder – was im örtlichen Bereich des Klägers üblich sei – der Bau neuer Straßen oder Verlegung des Straßenverlaufs – könnte sich der Kläger nur unter Zuhilfenahme Dritter erschließen.

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Der Kläger beantragt,

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das Urteil des Sozialgerichts Neubrandenburg vom 24. November 2005 sowie den Bescheid der Beklagten vom 27. Januar 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. September 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihn mit einem GPS-gestützten Navigationssystem vom Typ „Victor Trekker“ zu versorgen.

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Die Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Zur Begründung bezieht sie sich im Wesentlichen auf die erstinstanzlichen Entscheidungsgründe.

21

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Gerichtsakte verwiesen, deren Inhalt der Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung gewesen ist.


Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung ist unbegründet.

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Das Urteil des Sozialgerichts Neubrandenburg vom 24. November 2005 ist zutreffend. Der Bescheid der Beklagten vom 27. Januar 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. September 2004 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

24

Der Kläger hat gegenüber der Beklagten keinen Anspruch auf Versorgung mit dem GPS-gestützten Navigationssystem vom Typ „Victor Trekker“. Versicherte haben gemäß § 33 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Diese Anspruchsvoraussetzungen sind hier nicht erfüllt.

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Dabei geht der Senat – wie bereits das SG – davon aus, dass die Versorgung nicht bereits deswegen ausgeschlossen ist, weil es sich bei dem Gerät um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens handele. Dies ist für handelsübliche GPS-Navigationssysteme, wie sie inzwischen, insbesondere in Kraftfahrzeugen weit verbreitet sind, ohne Weiteres anzunehmen. Es ist hier aufgrund der vorliegenden Herstellerinformation gleichwohl davon auszugehen, dass das Gerät technisch erheblich für den Gebrauch durch Blinde gegenüber anderen tragbaren GPS-Geräten verändert ist, wie z. B. durch die vorgesehene kleine Tastatur für die Brailleeingabe. Im Übrigen zeichnet sich das Gerät durch Nutzung einer erheblich angepassten Software aus, welche den speziellen Bedürfnissen Blinder Rechnung trägt, so dass insgesamt betrachtet der Hilfsmittelcharakter nicht abzusprechen ist. Dies dokumentiert sich zudem auch in den Anschaffungskosten, welche deutlich über den Preisen für „normale“ GPS-Geräte liegen (vergleiche ähnliche Auffassung des Senates zu einem Bildtelefon als Hilfsmittel, Urteil vom 07. Dezember 2006, L 7 KR 40/05).

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Des Weiteren ist auch unschädlich, dass GPS-Geräte nicht im Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt sind. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der auch der hiesige Senat folgt, stellt das Hilfsmittelverzeichnis für die Gerichte nur eine unverbindliche Auslegungshilfe des § 33 SGB V dar.

27

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

28

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich gewesen (vergleiche § 163 SGG).

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